Im Interview mit Christoph Raethke haben wir über die Startup-Szene gesprochen und über Werte, die Gründer*innen mitbringen sollten. Als Gründer, Investor, Autor und Dozent ist Christoph seit 1999 eine der treibenden Kräfte im deutschen Startup-Ökosystem. Herzlichen Dank für das aufschlussreiche Interview.
Wie ist die Startup-Szene aktuell aufgestellt und was hat die Pandemie mit der Startup-Szene gemacht?
Ich glaube, wenn wir nächstes Jahr auf diese Zeit zurückschauen, werden wir erstaunt sein, wie wenig die Startup-Szene von der Pandemie beeinflusst wurde. Das Mantra der Branche ist: trial and error, schnell auf neue Kundendaten reagieren, wenig Fixkosten aufbauen. Meiner Meinung nach ist eine Pandemie, wirtschaftlich gesprochen, auch nur ein Set neuer Kunden- und Kontextdaten. Darauf können Startups genauso reagieren, wie sie auf neue Megatrends oder Zielgruppen reagieren würden.
Startups müssen außerdem nur selten physische Infrastrukturen am Laufen halten und die Mitarbeiter sind mit tauglicher Hard- und Software ausgestattet. Deswegen und weil Softwareprodukte sich leichter veränderten Gegebenheiten anpassen lassen, geht es der Startup-Branche sicher viel besser als der Gastronomie oder dem Tourismus.
Was hast du über dich gelernt im vergangenen Jahr?
Ich habe gelernt, wie wichtig mir Alltagsinspiration ist, weil mir das plötzlich gefehlt hat. In Berlin-Mitte zu leben bedeutet, überall und permanent schnelle, beiläufige und manchmal skurrile Sinneseindrücke aufzufangen, egal ob auf der Straße, in der U-Bahn oder in einer Bar. Das können Gesprächsfetzen oder unterschiedlichste Sprachen sein und manchmal auch Zeitgenossen, die bewusst ein bisschen anders sind als andere. Solche Beobachtungen inspirieren mich, ich ziehe daraus Geschichten, Kreativität und Witz. Seit Corona gibt es davon absolut nichts mehr. Das fühlt sich an wie eine mentale Taubheit. Ein paar Freunde und ich haben deswegen zum Gegenschlag ausgeholt, indem wir eine „Lockdown-Band“ gegründet haben. Wir machen alles online: proben, komponieren und aufnehmen. BC & the VCs (www.bcandthevcs.de) ist Deutschlands erste Combo, die nur aus Tech-Investoren und Startuppern besteht. Und wir sind heiß darauf, unser Repertoire post-corona live auf die Bühne zu bringen!
Wie schätzt du die Ausbildung von Gründer*innen in Deutschland ein?
„Gründerausbildung“ war lange ein Nischenthema von und für Verrückte, die irgendwie vom Silicon Valley infiziert waren. Ich bin seit 1999 in das Thema involviert und habe bis vor vier Jahren mein eigenes Accelerator-Programm, die Berlin Startup Academy, geführt. Sowas ging lange nur in Berlin, weil hier die kritische Masse vorhanden war und eine kulturelle Akzeptanz des Berufsbildes „Digitalunternehmer“. Auch wenn der Fortschritt der letzten 20 Jahre gewaltig ist, hat es aus meiner Sicht in Deutschland viel zu lange gedauert, bis die Methoden und Einstellungen auch in etablierten Organisationen und der Fläche angekommen sind.
Das hat sich in den letzten Jahren endlich verändert. Die Campus Founders sind geradezu ein Symbol für diese dynamische Änderung. Bedeutende Ressourcen, Ernsthaftigkeit und Professionalismus werden eingesetzt, um in Heilbronn ein Gravitationszentrum zu schaffen, das fassbaren, langfristigen und positiven Wandel anschiebt. Gerade in den letzten fünf, sechs Jahren haben das Tempo und die Qualität nochmal angezogen. Insgesamt sind wir in meinen Augen auf einem guten Weg.
Die Campus Founders wollen die nächste Generation an werteorientierten Gründer*innen ausbilden. Wie wichtig ist es, dass junge Gründer*innen eine (gesellschaftliche) Haltung einnehmen?
Gründer sind meiner Erfahrung nach schon immer reflektierter und werteorientierter als andere Berufsgruppen. Das liegt allein schon daran, dass sie nicht in einer Hierarchie mitschwimmen können, sondern eine eigene Unternehmenskultur entwickeln müssen. Um ein neues Unternehmen profitabel aufzustellen, helfen nur Kundenorientierung, Problemfokus und kaufmännisches Handwerk und nicht Schlagwörter. Im Moment sehe ich aber immer mehr angehende Gründer, die genau das tun und die wichtigen Eckpfeiler durch Wokeness ersetzen wollen. Vielleicht ein wenig unpopulär, aber für mich ist die Sache mit der „Werteorientierung“ erst einmal Propaganda, eine Worthülse, eine Scharade. Es wird detailiert erzählt, wie wichtig Nachhaltigkeit und Klimaziele sind, um dann am Ende eine Unternehmensidee ohne Geschäftsmodell, Innovation oder Kundenrecherche zu präsentieren. Oft können diese Ideen nur auf Basis von Steuer- oder Spendengeldern überleben. Ich glaube absolut daran, dass Klima und Umwelt die wichtigsten wirtschaftlichen Opportunitäten der nahen Zukunft sind, aber nur, wenn sie mit harten Skills angegangen werden.
Die Campus Founders plädieren dafür, mehr auf Zebras statt auf Unicorns zu setzen. Sie wollen Gründer*innen, die nicht nur Geld verdienen, sondern Verantwortung übernehmen wollen. Zebras sind wirtschaftlich erfolgreich und verbessern nachhaltig die Gesellschaft. Sie opfern nicht eins für das andere. Wie schätzt du den Ansatz ein?
Es tut mir leid, aber ich muss nochmal den Propaganda-Alarm auslösen. Der Kult um das Unicorn existiert nur in einer medialen Phantasiewelt, genauso wie das Zerrbild von „Gründern, die nur Geld verdienen wollen“. In Wahrheit bewegt sich die deutsche Startup-Szene schon seit vielen Jahren in Richtung kleinerer, industrienaher B2B-Lösungen, ganz besonders im Südwesten. Viele Investoren haben sich entsprechend abgewandt von der Suche nach dem Milliarden-Case mit Abermillionen Nutzern. Sie planen stattdessen entlang von Unternehmen, die in einer bestimmten Branche ein paar Hundert Kunden haben und vielleicht einen zwei- oder dreistelligen Millionen-Exit bringen. Ich finde es überflüssig, wie Startup-Beobachter von der Seitenlinie gegenwärtig Schwarz-Weiß-Märchen von Sustainability versus Profit, gehörnte versus gestreifte Paarhufer und Werthaltigkeit versus Amoralität erfinden. Das ist alles Schmierentheater. Unter erfahrenen Gründern ist die Tonalität ganz anders – da wird jeder Erfolg gegönnt, weil alle wissen, wie verdammt hart er erarbeitet werden musste.
Der Bundesverband Deutsche Startups und der Digitalverband Bitkom haben eine gemeinsame Diversity-Initiative vorgestellt. Das Ziel: „eine langfristige Veränderung im Start-up-Ökosystem – hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit und Diversität“. Was muss deiner Meinung nach passieren, das sich hier etwas ändert?
Das Wichtigste ist, sich auch bei diesem Thema von schwarz-weiß-Parolen und einer ständig mitschwingenden moralischen Überhöhung zu trennen. Die Bilanz jahrzehntelanger Frauenförderung im Startup-Segment ist erbärmlich. Nur wenige Frauen wagen den Schritt, mit einer Idee an die Startup-Öffentlichkeit zu gehen. Ich biete seit 2008 offene, kostenlose Veranstaltungen für alle, die übers Gründen in der Technologiebranche nachdenken. Die Geschlechterquote auf der Einstiegsebene liegt nach wie vor bei 80/20. Die Female-Only-Förderprogramme, Konferenzen und fortwährenden Preisverleihungen schlagen vor allem mediale Wellen, haben aber kaum messbare Auswirkungen. Wir müssen endlich datenbasierter arbeiten.
Es wird zu viel von unwichtigen und schemenhaften, aber polarisierenden Beobachtungen wie „unbewusster Voreingenommenheit“ gesprochen. Wir sollten aber vielmehr darüber reden, dass sich eine Gründerkarriere am wenigsten für Gender Engineering eignet. Sie ist dramatisch weniger plan- und arrangierbar als die Stellenbesetzung in Behörden und Konzernen. Es gibt eine absolut unterschiedslose Transparenz von Wissen und Ressourcen, die für eine Gründung wichtig sind. Frauen nehmen die unzähligen Angebote, die allen offenstehen, nicht wahr. Die Ursachen dafür liegen in meinen Augen außerhalb der Gründerszene – Gendersternchen und Diversity-Initiativen werden daran nichts ändern, so wie sie schon in den vergangenen Jahren nichts geändert haben.
Was sind Werte, für die du persönlich einstehst? Welche Werte sind für Gründer*innen entscheidend?
Für mich sind das die Werte des Liberalismus, die gegen Rassismus und Ausgrenzung von rechts und Staatsgläubigkeit und Gedankenpolizei von links verteidigt werden müssen. Ich hab mir sogar ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Liberalismus rocks!“ anfertigen lassen. Ich glaube, dass Gründer generell zum Liberalismus tendieren. Ohne eine weltoffene Organisation auf der einen und eine Absage an Vorgaben von oben auf der anderen Seite, kann man nicht innovativ sein.
Warum fällt es manchen Gründer*innen so schwer, eine große Vision zu vertreten und ein großes Problem zu adressieren?
Einer der beiden wichtigsten Faktoren ist, dass über die Fördertöpfe hierzulande viele Frühphasen-Investments aus den Händen des Staates kommen. Fördergelder müssen auf Basis sachlicher, kaufmännischer Kriterien vergeben werden. Wer sich um eine Förderung bewirbt, muss nachvollziehbar aufschlüsseln, wofür das Geld eingesetzt wird. Nur so sind die Anträge vergleichbar. Den verantwortlichen Sachbearbeiter mit einer begeisternden Vision mitzureißen, bringt vergleichsweise wenig. Dem steht der quintessentielle amerikanische Investor gegenüber, der vor allem mitgerissen werden will. Ich glaube aber, das ändert sich in Deutschland langsam, weil immer mehr Gründer aus der ersten und zweiten Generation zu Investoren werden.
Der zweite wichtige Faktor ist, dass „Storytelling“ außerhalb der USA oft Argwohn hervorruft. Damit ringen sogar erfahrene Gründer. Selbstmarketing ist bei uns kulturell eher verpönt, sowohl beruflich als auch privat. Deswegen zwinge ich Teams, mit denen ich arbeite, dazu ihre Geschichte aufzuschreiben – eine Geschichte, in der sie richtig viel schaffen, ein Stück der Welt verändern und dabei sich selbst und ihre Mitarbeiter und Investoren reich machen. Es ist erstaunlich, wie schwer das den meisten deutschen, beziehungsweise nicht-amerikanischen Gründern fällt – selbst, wenn sie allen Grund dazu hätten.
Was macht gute Gründer*innen für dich aus?
Es gibt eine Magie, die entsteht, wenn jemand für ein Thema brennt und gleichzeitig den gesunden Menschenverstand und die handwerklichen Fähigkeiten zeigt, um es umzusetzen. Ich spüre diese seltene Kombination sofort. Alle suchen danach und wenn jemand diese Kombination findet, erzählt er oder sie anderen mit großen Augen davon.
Für welche Branchen begeisterst du dich als Investor und/oder Business Angel besonders?
Ich mag Ideen, die nahe an einem Effizienzproblem liegen. Mein letztes Investment war Movacar. Von denen habe ich gelernt, dass die deutschen Autovermieter jedes Jahr 300 Millionen Euro für bezahlte Fahrzeugüberführungen verschwenden. Außerdem bin ich Gesellschafter bei Seniovo und iCombine. Seniovo verwandelt den Bad-Umbau für mobilitätseingeschränkte und ältere Menschen von einer monatelangen Schlacht mit Handwerkern und Versicherungen in eine One-Click-Lösung. Und die HR-Software iCombine vereinfacht das flexible Aufstellen von abteilungsübergreifenden Task Forces für neue Aufgaben.
Gibt es Bereiche, die deutsche Startups mehr in den Fokus nehmen sollten?
Ich glaube ehrlich gesagt nicht an branchenweite Direktiven. Gründerteams arbeiten an den Problemen, die sie begeistern und die sie lösen können. Ja, es gibt Bereiche, in denen man sich neue Lösungen wünschen würde, wie zum Beispiel Unterricht und Bildung. Aber, wie jetzt gerade wieder deutlich wird: Wer in dem Bereich gründet, stößt auf so viel staatliche Regulierung, datenschutzfanatische Eltern, bürokratische Budgetvergabe und unzureichende Infrastruktur, dass er sich in einem Himmelfahrtskommando wiederfindet.
Was würdest du jungen Menschen raten, die eine Idee für ein Startup haben?
Kommt so schnell wie möglich zu mir oder Gründer-Anlaufstellen wie den Campus Founders. Es gibt mittlerweile sehr viele Ressourcen für Menschen, die sich trauen, ihre Zukunft mit einer Gründung in die eigenen Hände zu nehmen – und sie warten auf euch.
Autor:
Als Gründer, Investor, Autor und Dozent ist Christoph seit 1999 eine treibende Kraft im deutschen Startup-Ökosystem. Mit seinem Podcast angelsofdeutschland.de arbeitet er daran, mehr Menschen für Startup-Investitionen zu begeistern, während seine Methoden, Artikel, Universitätsvorlesungen und Veranstaltungen darauf abzielen, aufstrebenden Gründern bessere Erfolgschancen zu geben. Seit 2012 entwickelt und implementiert er Entrepreneurship-Programme für einige der größten deutschen Unternehmen.